Foto: Daniel Peter/Universität Würzburg

Mein Interesse für die Philosophie geht auf meine Schulzeit im Gymnasium zurück. Philosophie gehört im italienischen Schulsystem zu den wichtigen Pflichtfächern in den letzten Jahren vor dem Abitur. Was mich schon als Schülerin am meisten faszinierte, und immer noch fasziniert, sind zwei Merkmale der Philosophie: Einerseits, dass in der Philosophie nichts für selbstverständlich oder selbsterklärend gilt, und andererseits, dass Philosophie trotz der Komplexität ihrer Fragen und trotz ihrer scheinbaren Abstraktion eigentlich mit dem zu tun hat, was für Menschen ganz konkret und ganz wichtig ist.

Aus dieser Begeisterung sowohl für die begriffliche Analyse und für Genauigkeit des Denkens als auch für die Bindung an das Konkrete und an das, was uns in der Erfahrung am meisten berührt, entstand auch relativ früh mein Interesse für die phänomenologische Philosophie. Dieses Interesse konnte ich in allen wichtigen geographischen und biographischen Etappen meines Werdegangs verfolgen und erweitern, vor allem dank der vielen wichtigen Begegnungen und Austausche.

Meinen Magister erwarb ich an der Universität Pavia mit einer Arbeit über Husserls Phänomenologie des Zeitbewusstseins, insbesondere die der mittleren Phase, die der sogenannten Bernauer Manuskripte. Auf Basis minutiöser Beschreibungen entwickelt Husserl in diesen Texten eine Analyse der Strukturen des Zielbewusstseins, die es uns m.E. ermöglicht, Subjektivität dynamisch zu denken. Dies zeigt, dass die Zeitanalysen trotz ihres formalen Charakters eigentlich zur Betrachtung der Konkretion des Bewusstseinslebens in seinen verschiedenen Facetten unentbehrlich sind. Aus den Ergebnissen der Magisterarbeit, bzw. der italienischen tesi di laurea, entstanden aber noch weitere Fragen bezüglich der Art und Weise, wie eben die Zeitanalysen in der Phänomenologie eine solche konkrete Bedeutsamkeit gewinnen und wie sie uns ermöglichen, das Verhältnis von Subjektivität und Welt neu zu denken. Es waren diese Fragen, die mich zur Verfassung meines Dissertationsprojekts motivierten. Es handelte sich also immer noch um die alte ‚Faszination‘: Wie kombiniert man das begrifflich Allgemeine, sogar das Formale, mit den ganz konkreten Themen, die uns nicht nur philosophisch, sondern auch im Alltag beschäftigen? Husserl schien mir immer noch der Autor zu sein, bei dem ich eine Orientierung in dieser Frage finden konnte. Und der Ausgang von den Zeitanalysen schien mir auch der richtige zu sein. Zeit ist aber nur abstraktiv an und für sich zu betrachten; auf der Suche nach dem Konkreten schien mir das Verhältnis zwischen Zeit und Raum in der Phänomenologie das Thema zu sein, an das ich mich wenden sollte.

Meine Dissertation befasst sich nämlich mit dem Verhältnis von Raum und Zeit in Husserls Phänomenologie, ausgehend von dem Projekt einer phänomenologischen transzendentalen Ästhetik, d.h. einer Theorie der sinnlichen Erfahrung. Die Doktorarbeit konnte ich dank einer co-tutelle de thèse an zwei philosophischen Instituten – Pavia und Leuven – mit einer bedeutenden philosophischen Tradition schreiben. Die Forschungsarbeit an diesen beiden Instituten und insbesondere an den Husserl-Archiven (in Leuven und dann für ein Jahr in Köln) mit all den verschiedenen Austauschen, die ich im Laufe der Promotionsjahre hatte, waren für mich äußerst prägend. Eine überarbeitete Fassung der Dissertation erschien im Jahr 2014 mit dem Titel Spatio-Temporal Intertwining. Husserl’s Transcencental Aesthetic. Wie der Titel schon andeutet, ist die These dieses Buches, dass die beiden Dimensionen der Zeit und des Raumes als miteinander verflochten betrachtet werden sollten. Genauer gesagt: Ihre Verflechtung ist gerade das, was die konkrete Erfahrung eines leiblichen Subjekts möglich macht. Diese Bemerkung führte mich schließlich dazu, den konstitutiven dynamischen Charakter der sinnlichen Erfahrung selbst als erste und grundlegende Ebene der Sinnkonstitution hervorzuheben.

Zu den Phänomenen, die es mir ermöglicht haben, zu zeigen, inwieweit Räumlichkeit und Zeitlichkeit in der Phänomenologie im Lichte ihrer Verflechtung verstanden werden sollten, gehört das des Leibgedächtnisses. Es war also ein echter Glücksfall, dass ich, als ich kurz vor dem Abschluss meiner Doktorarbeit stand, auf eine an der Klinik für Allgemeine Psychiatrie in Heidelberg ausgeschriebene Stelle zum Thema Leibgedächtnis aufmerksam wurde. In den sechs Jahren, die ich an der Sektion Phänomenologie der Klinik für Allgemeine Psychiatrie in Heidelberg nach der Promotion verbracht habe, konnte ich meine Forschungsinteressen in einem sehr lebendigen interdisziplinären Umfeld weiter vertiefen und erweitern. Meine damaligen Projekte konzentrierten sich hauptsächlich auf Leibgedächtnis, Imagination und Als-ob-Erfahrungen (Spiel, Fiktion usw.). Durch diese Fokussierung hatte ich unter anderem die Gelegenheit, die soziale Relevanz der phänomenologischen Analysen über die Zeit, die Erinnerung, den Leib und die Imagination hervorzuheben – also mich auf einen Aspekt der konkreten Erfahrung zu konzentrieren, der in meiner Monographie etwas am Rande steht. In interdisziplinären Forschungsbereichen konnte ich sowohl die Stärke der philosophischen und phänomenologischen Reflexion hervorheben als auch mich von anderen Ansätzen zu denselben Phänomenen – in der Philosophie aber auch in empirischen Wissenschaften wie Psychologie und Psychopathologie – bereichern lassen. Das Interesse für interdisziplinäre Arbeit prägt meine Forschungen heutzutage noch.

Auch an beiden anderen Orten – Würzburg und Kassel – wo ich nach Heidelberg gearbeitet habe, habe ich das Glück gehabt, die skizzierten Forschungslinien in einem offenen und diskussionsfreudigen kollegialen Umfeld zu vertiefen und zu erweitern. Obwohl der Aufenthalt in Kassel nur ein Semester dauerte, eröffnete er mir neue Horizonte vor allem bezüglich der theoretischen Biologie des 20. Jahrhunderts. Insbesondere habe ich aus der Auseinandersetzung mit dieser Forschungslinie entscheidende Einsichten für die Diskussion der Themen Normalität und Pathologie sowie der mit diesen Begriffen verbundenen deskriptiven und normativen Implikationen gewonnen.

Mit meiner Juniorprofessur in Würzburg, die ich im Jahr 2018 angetreten habe, versuche ich die verschiedenen Richtungen meiner Forschung miteinander zu bündeln, und dabei immer die doppelte Fokussierung auf die präzise Begriffsarbeit und auf die Konkretheit der Phänomene beizubehalten. In gewisser Kontinuität mit den oben dargestellten Themen konzentriert sich meine aktuelle Forschung vor allem auf die Phänomenologie der Fiktion, der Phantasie und der Normativität in den Strukturen der ästhetischen Erfahrung. Neben dem Interesse an Fragen zur Ontologie der Fiktion (Existieren fiktionale Objekte? Was ist ihr ontologischer Status? Welche soziale Relevanz haben sie? Inwieweit beeinflussen sie unsere realen Erfahrungen?), die auf Intentionalitätsanalysen aufbaut, bewegt sich meine Forschung in Richtung einer Thematisierung einiger ästhetischer Theorien aus epistemologischer Sicht. Insbesondere interessiert mich die Analyse des normativen Charakters von empirischen Erkenntnisformen, die nicht an objektive Kriterien oder an ein auf Verifikation beruhendes Wissen gebunden sind. Die philosophische Tradition, die sich mindestens seit Hume und Kant mit der Frage der ästhetischen Normativität befasst, scheint mir dabei entscheidende Anhaltspunkte zu bieten, um den Status der empirischen Erkenntnis auch aus phänomenologischer Sicht neu zu denken.

Neben diesen Themen koordiniere ich zurzeit zwei Projekte zum Thema ‚Intentionalität‘. Eines dieser Projekte „Modi der Intentionalität: Eine historische und systematische Analyse“ befasst sich mit dem Verhältnis zwischen mittelalterlichen und phänomenologischen Intentionalitätstheorien, denen sich die Forschergruppe aus der Sicht der Kognitions-, Handlungs- und Emotionstheorie nähert. Die jüngste Veröffentlichung dieses Projekts ist ein Band der Zeitschrift Topoi über „Doppelte Intentionalität“. Das andere Projekt, „Nicht-gegenstandsgerichtete Intentionalität. Affekt und Tendenz“, befasst sich mit der Frage nach den Strukturen und den Funktionen von unbestimmten Intentionalitätsformen. Wir untersuchen dabei die Genese intentionaler Strukturen und ihr Entstehen aus einem offenen und unbestimmten Tendieren. In diesem Zusammenhang sind das Phänomen der Affektion, sowie verschiedenen Formen des emotionalen Erlebens und der Handlung von entscheidender Bedeutung.

Dr. Michela Summa

Juniorprofessur für Theoretische Philosophie, Institut für Philosophie, Universität Würzburg