In seinem Roman «Mein Name sei Gantenbein» schreibt Max Frisch: «Jeder Mensch erfindet sich früher oder später eine Geschichte, die er für sein Leben hält.» Wann immer ich beschreiben soll, wie ich zur Philosophie, zum Fernsehen und zum Schreiben gekommen bin, erinnere ich mich an diesen Satz.
Auf jeden Fall habe ich nicht geplant, Philosophie zu studieren, und auch zum Fernsehen wollte ich nie. Aufgewachsen bin ich in einem Dorf im Schweizer Mittelland. Ich erinnere mich an zwei Berufswünsche: Im Kindergarten Gartenzwergherstellerin, im Grundschulalter Psychiaterin. Irgendwann steckte meine Nase aber ununterbrochen in Büchern, und Physik und Chemie lagen mir nicht besonders, weshalb ich mich für ein geisteswissenschaftliches Studium entschied mit Philosophie im Hauptfach.
Damals gab es in Zürich keine einzige Philosophieprofessorin, und die Mitarbeiter*innenstellen waren zum Grossteil an Männer vergeben. Während eines Austauschjahrs in Basel erlebte ich erstmals eine Philosophieprofessorin (Annemarie Pieper). Nach dem Studienabschluss erhielt ich am Lehrstuhl für Geschichte der Philosophie (Helmut Holzhey) eine Stelle angeboten und vergrub mich in ein Dissertationsprojekt zum Thema «Wahrheit des Mythos» bei Blumenberg, Schelling und Hölderlin.
Ich drohte aber bald, im «Absoluten» unterzugehen und wählte deshalb den Blumenberg’schen «Höhlenausgang» zurück in die praktische Philosophie, wo ich schliesslich am Ethik-Zentrum der Universität Zürich über «Pflichten auf Distanz. Weltarmut und individuelle Verantwortung» promovierte (bei Peter Schaber, erschienen ist die Dissertation bei DeGruyter 2010, https://www.degruyter.com/document/doi/10.1515/9783110228267/html?lang=de ). Da ich auch die praktische Seite der Armutsbekämpfung verstehen wollte, unterbrach ich mein Doktoratsstudium durch ein Praktikum bei der Uno in New York. Nach meiner Rückkehr ans Ethik-Zentrum baute ich mit Kolleg*innen eine internationale Forschungspartnerschaft mit der Makerere University in Kampala (Uganda) auf. Meine Promotionsprüfungen absolvierte ich hochschwanger mit dem ersten Kind.
Nach meiner Promotion leitete ich drei Jahre die Weiterbildungsstudiengänge «Advanced Studies in Applied Ethics» am Ethik-Zentrum. Der Brückenschlag der Philosophie in die Politik und die Praxis interessierte mich immer schon. Ich wollte keine «armchair»-Philosophin sein, sondern praktische Fragen angehen und zur Klärung von Konzepten wie «profiting from harm», «Instrumentalisierung» oder «Konsumentenverantwortung» beitragen.
Dass das Schärfen von Begriffen und Konzepten nicht nur meine Welt reicher machte, sondern auch in der Öffentlichkeit geschätzt wird, ist mir umso deutlicher, seit ich die «Sternstunde Philosophie» beim Schweizer Radio und Fernsehen SRF moderiere (https://www.srf.ch/play/tv/sendung/sternstunde-philosophie?id=b7705a5d-4b68-4cb1-9404-03932cd8d569 ). Neben meinen philosophischen Kenntnissen kam mir für die Stellenbewerbung sicherlich auch zugute, dass ich seit Mitte Zwanzig für die NZZ tätig war. Mit der journalistischen Arbeit finanzierte ich mein Studium.
Anfänglich war ich fürs Fernsehen als freie Moderatorin tätig. Nach zwei Jahren wurde ich fest angestellt. Ich konnte mit Persönlichkeiten wie Martha Nussbaum, Noam Chomsky, Peter Singer oder David Chalmers sprechen, traf Tim Bernes Lee, Sahra Wagenknecht, Yuval Noah Harari. Den Denkhorizont einer Person einem breiten Publikum zu vermitteln und herauszuschälen, worin das Abenteuer der Philosophie besteht, war mir Herausforderung und Freude zugleich – und ist es bis heute geblieben. Mittlerweile sind meine Aufgaben beim Fernsehen diverser: Neben den Sternstunden-Gesprächen erklären wir die wichtigsten Gedankenexperimente der Philosophie in animierten Kurzfilmen («filosofix», https://www.youtube.com/playlist?list=PL1NXgjXDUNJkvzZpPzA0pvT2asJdJaBQP ), Yves Bossart und ich streiten in einem YouTube-Format namens «Bleisch&Bossart» (https://www.youtube.com/playlist?list=PL1NXgjXDUNJk3K30oY0_2smwIaQ5aH2_L) über alltagsphilosophische Fragen, ich bin regelmässig in einer Schweizer Radiosendung auf SRF3 mit alltagsphilosophischen Themen zu Gast und als Fachredaktorin im ganzen Unternehmen für Themen der Philosophie Ansprechperson.
So erfüllend und aufregend die Arbeit bei den „Sternstunden“ ist, die Wissenschaft zog und zieht mich weiter in ihren Bann. So versuchte ich – ab 2010 als zweifache Mutter – Wissenschaft und Journalismus unter einen Hut zu bekommen. Ich arbeitete weiter an Forschungsprojekten am Ethik-Zentrum und schrieb gemeinsam mit Markus Huppenbauer eine Einführung in die ethische Entscheidungsfindung (2021 in der 3. Auflage im Versus-Verlag erschienen, http://www.versus.ch/produkt/256 ). Bei Monika Betzler (damals noch Universität Bern) arbeitete ich mit Kolleg*innen an einem SNF-Projekt zum Thema «Gründe der Parteilichkeit“, innerhalb dessen ich mich zur Frage der familiären Pflichten habilitieren wollte. Doch je mehr Zeit verstrich, desto deutlicher wurde mir, dass die herkömmliche universitäre Laufbahn für mich keine Option war. Ich hätte mich ins Ausland bewerben müssen, was ich vereinzelt auch tat. Aber als sich ein Stellenangebot konkretisierte, konnte ich mir die „DiMiDo-Professur“ im Ausland mit zwei Kleinkindern zuhause in Zürich nicht vorstellen. Mein Mann hatte eine interessante Stelle in der Schweiz. Einen Umzug hätte ich ihm nicht zumuten wollen. So blieb ich weiterhin beim Fernsehen und wandelte mein Habilitationsprojekt um in eine Publikation für die breitere Öffentlichkeit: «Warum wir unseren Eltern nichts schulden» (https://www.hanser-literaturverlage.de/buch/warum-wir-unseren-eltern-nichts-schulden/978-3-446-25831-0/ ) ist 2018 beim Hanser Verlag in München erschienen. Aus der Zusammenarbeit mit Monika Betzler entstand der Band im Suhrkamp-Verlag zu «Familiären Pflichten» (2015) (https://www.suhrkamp.de/buch/familiaere-pflichten-t-9783518297209 ). Das Fernsehen liess mir stets grossen Freiraum, sodass ich dazwischen auch einen Forschungsaufenthalt an der Queen’s University in Belfast absolvieren konnte.
Bis heute übe ich mich im Versuch, meine Arbeit als Philosophin in der Öffentlichkeit mit meiner Rolle als Wissenschaftlerin zu verbinden. Ich bin als Dozentin tätig und arbeite immer wieder in Forschungsprojekten mit. Zuletzt habe ich gemeinsam mit Andrea Büchler im Rahmen eines Projektes am «Collegium Helveticum» der ETH, der UZH und der ZHdK ein Buch verfasst mit dem Titel «Kinder wollen. Über Autonomie und Verantwortung» (Hanser 2020, https://www.hanser-literaturverlage.de/buch/kinder-wollen/978-3-446-26575-2/ ), das sich mit den philosophischen, ethischen und rechtlichen Fragen der modernen Reproduktionsmedizin auseinandersetzt. Gegenwärtig bin ich Teil der interdisziplinären Forscher*innen-Gruppe «Think Tank für das Kind», die sich mit gesellschaftspolitischen und ethischen Fragen rund um die Kindheit befasst.
Manchmal bedaure ich, dass im deutschsprachigen Raum keine Strukturen bestehen, auch Personen, die an der Schnittstelle zwischen Öffentlichkeit und Wissenschaft arbeiten, fester an die Hochschulen anzugliedern. Ich muss immer wieder darum kämpfen, Affiliationen zu erhalten, um beispielsweise den Zugang zu Journals und Bibliotheken zu behalten. Vielleicht verändert sich dies irgendwann einmal. Ich bin der festen Ansicht, dass beide Seiten – Universitäten wie die Gesellschaft – davon profitieren könnten.