Philosophie ist für mich abgesehen von der Faszination des Denkens immer eine soziale Form gewesen. Anstatt Lehrer_innen und Mentor_innen zu nennen, möchte ich daher eher meine Lesekreise in den Vordergrund stellen, in denen ich mit Kolleg_innen in Kaffeehäusern und bis tief in die Nacht Texte gelesen, diskutiert, debattiert habe und wahrscheinlich mindestens soviel wie an der Universität gelernt habe. Damit kam die Philosophie in mein Leben. Natürlich muss man auch immer alleine lesen, sich den Kopf zerbrechen, schreiben, feilen, neu schreiben, neu denken, wieder lesen. Aber diese beglückende Erfahrung des „symphilosophierens“ und der argumentativen Erprobung im freundschaftlichen Umfeld sind für mich das zentrale Element, warum ich – trotz aller Um- und Abwegigkeiten des „akademischen Betriebs“ – immer wusste, warum man/frau sich das „antut“. Es ist mir sehr wichtig, dies auch an meine Studierenden weitergeben zu können und, wenn immer es geht, es einfach zu leben.
Als ich Ende der neunziger Jahre in Wien zu studieren begann, gab es – neben einigen anderen aktiven Gruppierungen – auch eine rege phänomenologische „community“, mit politischem Einschlag und Verbindungen zum Poststrukturalismus, zur Psychoanalyse, zum Feminismus. Das hat meinen weiteren Weg geprägt. Ich habe intensiv zu Husserl gearbeitet, vor allem zu Fragen der Evidenz- und Geltungstheorie, zur Ethik und zu Problemen der Rechtsphilosophie. Dies führte zur Dissertation („Anspruch und Rechtfertigung“ bei Husserl) und zu der Nachfolgepublikation einer „Einführung in die Rechtsphänomenologie“, da ich im Zuge meiner Recherchen bemerkt hatte, dass für dieses interdisziplinäre Gebiet eigentlich kein Überblickswerk vorlag, obwohl es von Beginn an ein Thema in der Phänomenologie war. Auch Levinas und Kant waren immer zentrale Autoren für mich, und damit Ethik und Moralphilosophie. Aber auch Erkenntnistheorie, Transzendentalphilosophie und die Philosophie des Geistes faszinieren mich, weshalb ich immer Schwierigkeiten habe, mich in das Schema „theoretische Philosophie oder praktische Philosophie“ einzuordnen – für mich gehören diese Themen zusammen.
Als ich dann nach einigen postdoktoralen Jahren der verstreuten Lektorinnentätigkeit das Glück hatte, eine Assistentinnenstelle am Philosophieinstitut in Wien zu bekommen, konnte ich mich wieder auf ein größeres Projekt konzentrieren. Dies hatte ich schon zuvor in einem Projekt für ein Habilitations-Stipendium der Österreichischen Akademie der Wissenschaften antizipiert, das mich auch an die New School for Social Research in New York führte – ebenso eine inspirierende und gewinnbringende Erfahrung wie auch andere längere und kürzere Forschungsaufenthalte am Husserl-Archiv in Leuven, am Institut für die Wissenschaften vom Menschen in Wien und am Center for Subjectivity Research in Kopenhagen. Bis das Habilitationsprojekt dann allerdings in seiner finalen Form vorlag, waren einige Jahre an Nachdenken, Schreiben, Kritik aufnehmen, Überarbeiten notwendig. 2017 kam schließlich das Buch „Phenomenology of Plurality. Hannah Arendt on Political Intersubjectivity“ heraus.
Meine Idee war, herauszuarbeiten, wie sehr Arendts Zugangsweise zu ihren zentralen Themen von der phänomenologischen Tradition geprägt war. Und zwar nicht nur als eine Schülerin Heideggers, sondern in einem potenziellen Dialog mit den entscheidenden systematischen Fragen dieser Tradition, die sich um Erscheinen, Wirklichkeit, Welt, Subjektivität und Intersubjektivität drehen. Mit einer unglaublichen Kreativität und intellektuellen Leistung hat Arendt diese Fragen in „das Politische“ hereingeholt, frei damit gearbeitet und dadurch, unter Anderem, diese Tradition transformiert und politisch fruchtbar gemacht. Bekanntermaßen machte sie mit ihren teils auch kontroversiellen Beiträgen weit über die akademischen Grenzen hinaus Furore. Viele ihrer Gedanken sind auch heute noch von ungebrochener Relevanz. Im männlich dominierten und systemverliebten akademischen philosophischen Betrieb hingegen – und damit hatte ich mich nicht nur einmal konkret auseinanderzusetzen – wurde sie gerne als „interessante Person“ mit „interessanten Gedanken“ dargestellt, die aber dann doch irgendwie „journalistisch“ und „assoziativ“ arbeitete. Wir wissen, was dieses Urteil in der strengen Welt der Philosophie bedeutet. Dass sich Arendt ganz explizit von der Philosophie distanzierte, hat gewiss auch inhaltliche Gründe, aber es war wohl auch nicht unwesentlich von ihrer Haltung geprägt, dort lieber gleich „Paria“ zu sein, wo man bestenfalls unwillkommener „Parvenu“ sein konnte.
Natürlich brauchte Arendt meine Arbeit keineswegs, um ernstgenommen zu werden – und es gibt auch andere wichtige Aspekte ihres Denkens. Aber eine nicht unwesentliche Motivation meines Schreibens war, klarzumachen, wieviel an theoretischem Gehalt (mit politischer Relevanz!) aus ihren oft so leichtfüßig erscheinenden Überlegungen zu schöpfen ist.
Im Moment interessiere ich mich, natürlich auch in Weiterentwicklung all dieser Stränge, für Erfahrungen von Öffentlichkeit. Welche Erfahrungstypen gibt es hier, inwieweit sind sie von normativen Erwartungen durchtränkt, inwieweit weisen sie selbst so etwas wie eine „Proto-Normativität“ auf, die auf ein Gelingen oder Nicht-Gelingen von öffentlicher Interaktion und Partizipation hinweisen? Welche Rolle spielen Erscheinen, Leiblichkeit, zumal in einer Zeit der digital vermittelten Kommunikation? Wie erleben wir den öffentlichen Raum, der durch zunehmende Überwachung und Pandemiepolitiken neu strukturiert wird?
In methodischer Hinsicht beschäftigt mich die Schnittstelle von phänomenologischen Ansätzen und kritischer Theorie, sowie poststrukturalistischen Zugangsweisen. Machtstrukturen, Institutionen, Diskurse formieren Subjekte und soziale Beziehungen, werden aber auch als solche von diesen erlebt und verändert. Ich denke, dass es hier spannende und viel zu lange durch gepflegte „Theoriegräben“ verhinderte Diskussionen auszuloten gibt und beteilige mich deshalb auch mit verstärktem Interesse an den neu entstehenden Debatten zu „kritischer“, „politischer“ oder „engagierter“ Phänomenologie.
Die Inspiration dazu habe ich nicht unwesentlich meinen Studierenden zu verdanken, insbesondere seit ich in Hessen tätig bin. Ich arbeite seit 2018 als Professorin an der TU Darmstadt, davor war ich für drei Semester an der Universität Kassel als Gastprofessorin engagiert. Durch die Tätigkeit an einer technischen Universität ergeben sich auch ganz neue Inspirationen, die sowohl interdisziplinäre Perspektiven betreffen, als auch eine verstärkte Reflexion auf die technologischen Bedingtheiten unseres Weltverhältnisses in den Fokus rücken.
An einem Institut integriert zu sein und mit den Kolleg*innen und Studierenden gemeinsam über all diese Themen nachdenken zu können, ist eine schöne Sache – und ein privilegierter Zustand. Auch wenn der sogenannte „Betrieb“ seinen Tribut vor allem hinsichtlich der Zeitökonomie fordert, so hoffe ich, alle diese neuen Herausforderungen des Denkens weiter intensiv verfolgen zu können.