Vereinbarkeit

Vorbemerkung

Alle deutschen Universitäten haben sich dazu verpflichtet, Vereinbarkeit – verstanden als die Vereinbarkeit von Familie und akademischem Arbeiten – sicherzustellen. SWIP Germany e.V. begrüßt diese Selbstverpflichtung und möchte mit diesem Good Practice Guide konkrete Vorschläge dazu machen, wie Philosophieinstitute an deutschen Universitäten ihren Beitrag zur ihrer Umsetzung leisten können.

Dieser Guide ist das Ergebnis einer Arbeitsgruppe, die SWIP Germany e.V. im Jahre 2022 eingerichtet hatte, und wurde zudem durch Vorschläge ergänzt, die das Plenum der 9. SWIP Jahrestagung (die im November 2022 Göttingen unter dem Titel “der 48-Stunden-Tag in Akademia: (Un)Vereinbarkeit von Sorgearbeit und professioneller Philosophie” stattgefunden hat). SWIP Germany e.V. bedankt sich herzlich bei allen, die zu diesem Dokument beigetragen haben!

Der nachfolgende Guide adressiert primär Personen, die an Philosophieinstituten Personalverantwortung haben. Sein Ziel ist u.a. für die besonderen Herausforderungen zu sensibilisieren, vor denen Personen mit Sorgeverantwortung im akademischen Alltag stehen, wobei insbesondere auf die Situation von an der Universität Beschäftigten mit Sorgeverantwortung eingegangen wird. Sollten Studierende Ergänzungen zu ihrer speziellen Situation wünschen, freuen wir uns über Rückmeldung an swipgermany@gmail.com.

Und zum Schluss zwei einschränkende Bemerkungen:

  • Die unten aufgeführten Problemdiagnosen und Vorschläge sollen nicht als vollständig und abgeschlossen missverstanden werden. Über weitere Erwägungen – dazu, was wieso falsch läuft, und dazu, was die akademische Gemeinschaft wie besser machen könnte – freuen wir uns unter swipgermany@gmail.com!
  • Sorgeverantwortung ist ein Faktor, der es Personen erschweren kann, in Akademia erfolgreich Fuß zu fassen – leider gibt es auch andere wie etwa körperliche Behinderung oder Minderheitenstatus (hinsichtlich zugeschriebenen Geschlechts, sozioökonomischen Hintergrunds, unterstellter “Bildungsnähe” oder “-ferne” etc.). Ein Guide wie dieser kann sich nur mit einem dieser Faktoren beschäftigen, doch dies bedeutet nicht, dass andere Hürden nicht ebenfalls wichtig sind und von der akademischen Gemeinschaft kollektiv beseitigt werden müssen!

Grundsätzliches

SWIP Germany e.V. spricht sich für den folgenden weiten Vereinbarkeitsbegriff aus:

  • Vereinbarkeit soll geschaffen werden für alle Personen, die Sorgearbeit für Angehörige wie bspw. Kinder, kranke Partner:innen, Eltern o.ä. leisten. Als Angehörige verstehen wir explizit nicht nur Verwandte, sondern auch solche Personen, mit denen man in einem gemeinsamen Haushalt lebt.
  • Vereinbarkeit ist dann hergestellt, wenn es den (im obigen Sinne) Sorgeleistenden möglich ist, sich ausreichend gut um ihre Angehörigen zu kümmern und gleichzeitig ausreichend gut am universitären Leben teilzunehmen. Besonders für Personen in der Qualifikationsphase darf die Mehrbelastung durch Sorgearbeit keine unfaire Hürde darstellen.

Sorgearbeit zu leisten, impliziert in vielen Fällen Folgendes:

  • Weniger Arbeitszeit im Vergleich zu Personen, die (aus Leidenschaft für das Fach oder wegen des hohen Konkurrenzdrucks) große Teile ihrer Zeit in ihre akademische Arbeit investieren. Denn Sorgeleistende können nur dann akademisch arbeiten, wenn die abhängigen Angehörigen anderweitig betreut sind.
  • Der Zeitpunkt der Arbeitszeit ist nicht flexibel wählbar, sondern hängt von der Betreuungssituation ab.
  • Das Risiko kurzfristig auszufallen ist höher, etwa wenn ein Kind erkrankt o.ä.
  • Mobilität ist nur mit viel Aufwand oder gar nicht zu organisieren.
  • Kognitive und emotionale Mehrbelastung, weil Sorgeleistende sich nicht nur um ihre akademischen Karrieren, sondern auch um die abhängigen Angehörigen kümmern müssen.
  • Höhere Risikoaversität, weil Sorgeleistende nicht nur für sich selbst sorgen müssen.
  • Finanzielle Mehrbelastung.

Was haben diese Implikationen im akademischen Kontext u.a. für Folgen?

  • Sorgeleistende entsprechen oft nicht dem Idealbild der Wissenschaftler:in, die völlig in ihrem Fach aufgeht, immer 100 Prozent zu geben bereit und in der Lage ist und nur für die Wissenschaft lebt. Ausgehend von diesem (an sich problematischen) Ideal kann es so aussehen, als wären Sorgeleistende wenig engagiert und würden ständig Ausnahmen und Sonderregelungen beanspruchen.
  • Diesen (falschen) Eindruck zu erwecken ist für Sorgeleistende besonders riskant, weil sie in erhöhtem Maße darauf angewiesen sind, dass ihre Kolleg:innen bzw. (im Fall von Studierenden) ihre Lehrenden ihre besonderen Bedürfnisse (etwa bei der Terminfindung, der Festlegung von Abgabefristen oder Leistungsanforderungen etc.) mit berücksichtigen. Für Personen in der Qualifikationsphase besteht zudem das besondere Risiko, nicht als verlässliche Kooperationspartner:in angesehen und deswegen nicht ausreichend gefördert zu werden.
  • Sorgeleistende haben meist (zumindest phasenweise) geringeren Publikationsoutput. Ebenso haben sie oft (zumindest phasenweise) weniger Möglichkeiten zum Networking. Beides ist an sich hinderlich für akademische Karrieren. Zudem führt beides zu weniger Sichtbarkeit, welche wiederum dazu führen kann, dass die Betroffenen weniger Gelegenheiten zum Publizieren oder Networking erhalten, weil sie nicht als Expert:innen bekannt sind und als solche angefragt werden.

Wie sollten wir als akademische Community mit diesen Folgen umgehen, um Vereinbarkeit nachhaltig herzustellen?

Bewusstseinswandel

  • Allgemein: Die akademische Community muss anerkennen, dass Sorgeleistende vor besonderen Herausforderungen stehen, die sich auch auf ihr akademisches Arbeiten auswirken. Dies bedeutet nicht, dass Sorgeleistende weniger engagierte Wissenschaftler:innen und deswegen weniger förderungswürdig sind; oftmals beweisen gerade Sorgeleistende, geschult durch ihre Mehrfachbelastung, besondere Leistungsfähigkeit und Verantwortungsbereitschaft. Aber auch unabhängig hiervon ist es unsere Aufgabe als auf faire Chancengleichheit festgelegte akademische Community, die Strukturen und Anforderungen so anzupassen, dass auch Sorgeleistende die Möglichkeit haben zu reüssieren.
  • Konkret: Die besonderen Herausforderungen, vor denen Sorgeleistende stehen, müssen explizit mitbedacht werden, insbesondere bei der Terminfindung, Aufgabenverteilung, Festlegung von Leistungskriterien.

Terminfindung

  • Grundsätzlich ist es wünschenswert, dass über Terminfindungsfragen (etwa für Institutskolloquien, Gremiensitzungen etc.) regelmäßig mit allen Beteiligten Rücksprache gehalten wird. Dabei ist zu berücksichtigen, dass unterschiedliche Personengruppen (Personen mit und ohne Sorgeverantwortung, Personen mit und ohne Sorgeverantwortung, die zudem pendeln etc.) unterschiedliche Bedürfnisse haben können und dass es zwischen diesen zu vermitteln gilt.
  • Veranstaltungen (insbesondere solche mit hohem Networking-Wert wie etwa Institutionskolloquia oder Gastvorträge) sollten zu Uhrzeiten stattfinden, zu denen üblicherweise eine Kinderbetreuung zur Verfügung steht (meistens zwischen 8.00 Uhr und 15.00 Uhr). Dies bedeutet u.U., dass mit angestammten akademischen Gepflogenheiten gebrochen werden muss (etwa dass externe Gäste zum Mittag- statt zum Abendessen eingeladen werden).
  • Bei Konferenzen sollte eine kostenlose Kinderbetreuung (mit der Möglichkeit zur „Eingewöhnung“ der Kinder) angeboten oder die Mitreise einer weiteren Betreuungsperson für Kinder unterstützt und idealerweise auch bezahlt werden.
  • Wenn Veranstaltungen außerhalb der gängigen Betreuungszeiten stattfinden, sollten Sorgeleistende nicht unter Druck stehen, daran teilzunehmen.
  • Manchmal ist weniger mehr: Es kann sich lohnen, weniger Kolloquiumstermine anzusetzen, bei denen aber alle teilnehmen können, als viele, die jeweils nur von einigen besucht werden können.
  • Wenn es nicht möglich ist, Veranstaltungen zu den gängigen Betreuungszeiten stattfinden zu lassen, sollte man erwägen, Personen, die nicht vor Ort sein können, die digitale Teilnahme zu ermöglichen. Dieses Zusatzangebot darf aber nicht so missverstanden werden, dass dadurch wirklich alle an der Veranstaltung teilnehmen können und müssen.

Semesterbetrieb

  • Sorgeleistende sollten bei der Planung der Zeiten von Lehrveranstaltungen Priorität haben.
  • Sorgeleistenden Lehrenden (insbesondere solchen, die pendeln) sollte es ermöglicht werden, Teile ihrer Lehre wenn notwendig digital abzuhalten. Hierbei gilt es, zwischen den besonderen Belastungen, mit denen Sorgeleistende konfrontiert sind und den legitimen Bedürfnissen der Studierenden abzuwägen.
  • Termine sollten in der Regel mit einem Planungsvorlauf von mindestens zwei Wochen angesetzt werden. Kurzfristige Terminanberaumungen sollten nur in besonderen Ausnahmen und möglichst selten erfolgen..
  • In einigen Bundesländern ist die Überschneidung zwischen Semester- und Schulferien nur sehr kurz. Für diese Zeitspanne ist es wünschenswert, wenn möglichst keine Veranstaltungen/Sitzungen geplant werden. Sollte sich das nicht vermeiden lassen, sollten die Termine hybrid stattfinden und Sorgeleistende zudem nicht zur Teilnahme verpflichtet sein. Dies gilt ebenso für Schließzeiten der Kitas und eventuelle Streiks usw.
  • Wenn Sorgeleistende aufgrund von Betreuungsaufgaben Anträge auf Teilzeit oder unbezahlten Urlaub stellen, sollten besondere Bemühungen unternommen werden, diese Anträge zu bewilligen.

Aufgabenverteilung

  • Grundsätzlich sollten sich Institute darum bemühen, die Aufgabenverteilung (etwa in der akademischen Selbstverwaltung, bei der Betreuung von Abschlussarbeiten etc.) transparent, kollegial und fair zu gestalten.
  • Insbesondere sollte darauf geachtet werden, dass Sorgeleistenden nur so viele Aufgaben zugeteilt werden, dass sie ihren weiteren akademischen Aufgaben sowie ihrer Sorgearbeit ausreichend gut nachkommen können. Damit dies der Fall ist, wird es u.U. notwendig sein, dass Kolleg:innen, die aktuell ohne Sorgeverantwortung sind, mehr Aufgaben übernehmen. Bei einer möglichen Umverteilung müssen allerdings auch andere Aspekte als die Mehrbelastung durch Sorgeverantwortung, etwa Unterschiede in den Karrierestadien und Anstellungssverhältnissen berücksichtigt werden.
  • Der Aufgabenverteilung sollte unbedingt eine realistische Zeitplanung zugrundeliegen. Bspw. sollte mit bedacht werden, dass viele Sitzungen im Rahmen der akademischen Selbstverwaltung nicht nur die Sitzungszeit selbst, sondern zudem Vorbereitungszeit in Anspruch nehmen.

Karriere

  • Grundsätzlich: Die Leistungskriterien, nach denen Bewerber:innen für akademische Positionen (Studienplätze, Mitarbeitenden-Stellen, Projektstellen, Professuren etc.) bewertet werden, müssen für Sorgende angepasst werden. Zu erwarten, dass eine Person mit Sorgeverantwortung in der gleichen Zeit genauso viel bzw. genauso gut arbeitet wie eine Person ohne, ist unrealistisch und unterläuft damit das Gebot der fairen Chancengleichheit! Dies muss mit Blick auf alle Parameter, nach denen gängigerweise akademische Leistung ermittelt wird, berücksichtigt werden, d.h. bei Publikationen, eingeworbenen Drittmitteln, organisierten Veranstaltungen, erfolgten Auslandsaufenthalten etc.
  • In Stellenausschreibungen oder in Vorstellungsgesprächen sollen Bewerber:innen deswegen ausdrücklich dazu aufgefordert werden, Faktoren anzugeben, die ihre wissenschaftliche Produktivität/ihren Lebenslauf beeinflusst haben, wie die Betreuung von abhängigen Angehörigen. Diese Faktoren erlauben eine realistische Einschätzung der Leistungen der Bewerber:innen und dürfen nicht zu einer Abwertung der Bewerbung führen.
  • Um Sorgeleistenden Auslandsaufenthalte zu ermöglichen, sollte eine finanzielle Unterstützung angestrebt werden, die Mehrkosten durch häufige Hin- und Rückreisen auffängt. Alternativ sollten Sorgeleistende dabei unterstützt werden können, Gastwissenschaftler:innen für mehrere kürzere oder einen längeren Zeitraum einzuladen, um so den notwendigen internationalen Austausch zu fördern. Idealiter sollte bei diesen Fragen (insbesondere wenn Flugreisen geplant werden) auch das Thema Nachhaltigkeit mitbedacht werden.
  • Universitäten sollten ihre Dual Career Optionen stärker ausbauen und besser bekannt machen.

Infrastruktur

  • Im Idealfall kann von den Instituten auf Fakultätsebene eine Initiative ergriffen werden mit dem Ziel, abschließbare Spinde, Ablagemöglichkeiten oder ein Eltern-Kind-Zimmer zur Verfügung zu stellen.
  • Jedes Institut sollte unabhängig vom konkreten Bedarf eine Ansprechperson bestimmen, die im Sinne der hier vorgeschlagenen Richtlinien (und darüber hinaus) tätig werden kann. Auf dieses Angebot sollte dann seitens des Instituts aktiv hingewiesen werden (Info-Wände, Homepage, Kommunikation mit Fachschaftsrat und Studienberatung).